Als einer der vorgeblichen Gründe für die Invasion in der Ukraine nannte der Kreml immer wieder die „bedrohliche Erweiterung“ der NATO nach Osten. Im Westen wurde die Aufnahme osteuropäischer Länder dagegen als deren souveränes Recht der freien Bündniswahl und als reine Rückversicherung gegen russische Übergriffe verstanden. Aber auch in Russland selbst gab es prominente Stimmen, die der Bedrohungsrhetorik des Kremls widersprechen.
Als Dokument der Zeitgeschichte möchte ich hier die Übersetzung eines Appells von Generaloberst Leonid Grigorjewitsch Iwaschow, den Vorsitzenden der Allrussischen Offiziersversammlung, präsentieren. Der Appell wurde am 28. Januar 2022, also kurz vor dem Beginn der russischen Invasion in die Ukraine, an den Präsidenten und die Bürger Russlands gerichtet. Einzelne Anmerkungen zum Text meinerseits in kursiv.
Appell der Allrussischen Offiziersversammlung
Die Menschheit lebt heute in der Erwartung eines Krieges. Krieg bedeutet unvermeidliche menschliche Opfer, Zerstörungen, Leid großer Menschenmassen, die Zerstörung des gewohnten Lebensstils und die Beeinträchtigung der Funktionssysteme von Staaten und Völkern. Ein großer Krieg ist eine enorme Tragödie, ein schweres Verbrechen. Es ist nun geschehen, dass Russland im Zentrum dieser drohenden Katastrophe steht. Und das ist wohl das erste Mal in seiner Geschichte.
Früher führte Russland (die UdSSR) gezwungene (gerechte) Kriege, und in der Regel dann, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gab, wenn lebenswichtige Interessen des Staates und der Gesellschaft bedroht waren. (Dies wird wohl nur ein strammer russischer Imperialist so unterschreiben)
Doch was bedroht heute die Existenz Russlands selbst? Gibt es solche Bedrohungen? Es kann behauptet werden, dass tatsächlich Bedrohungen bestehen – das Land steht am Rand des Abschlusses seiner Geschichte. Alle lebenswichtigen Bereiche, einschließlich der Demografie, degradieren kontinuierlich, und die Sterblichkeitsraten der Bevölkerung schlagen weltweite Rekorde. Diese Degradierung ist systemisch, und in jedem komplexen System kann die Zerstörung eines Elements den Zusammenbruch des gesamten Systems verursachen.
Aus unserer Sicht ist dies die Hauptbedrohung für die Russische Föderation. Doch diese Bedrohung ist interner Natur, sie resultiert aus dem Staatsmodell, der Qualität der Regierung und dem Zustand der Gesellschaft. Ihre Ursachen sind innerlich: die Lebensunfähigkeit des Staatsmodells, die vollständige Handlungsunfähigkeit und Unprofessionalität des Regierungssystems sowie die Passivität und Desorganisation der Gesellschaft. Kein Land kann in einem solchen Zustand lange bestehen.
Was externe Bedrohungen betrifft, so sind diese zweifellos vorhanden. Doch nach unserer Expertenmeinung sind sie derzeit nicht kritisch und bedrohen nicht unmittelbar die Existenz der russischen Staatlichkeit oder ihre lebenswichtigen Interessen. Die strategische Stabilität bleibt insgesamt erhalten, Atomwaffen sind zuverlässig unter Kontrolle, NATO-Truppenverbände werden nicht verstärkt, und es gibt keine bedrohliche Aktivität.
Die um die Ukraine geschaffene Situation hat daher vor allem einen künstlichen, eigennützigen Charakter, der auch von internen Kräften in der Russischen Föderation getragen wird. Infolge des Zusammenbruchs der UdSSR, an dem Russland (Jelzin) maßgeblich beteiligt war, wurde die Ukraine ein unabhängiger Staat und Mitglied der UNO. Gemäß Artikel 51 der UN-Charta hat sie das Recht auf individuelle und kollektive Verteidigung.
Die russische Führung hat bisher die Ergebnisse des Referendums über die Unabhängigkeit der DNR und LNR nicht anerkannt. Gleichzeitig wurde auf offizieller Ebene, auch im Rahmen des Minsker Verhandlungsprozesses, mehrfach betont, dass diese Territorien und deren Bevölkerung zur Ukraine gehören.
Auch wurde auf hoher Ebene mehrfach der Wunsch betont, normale Beziehungen zu Kiew zu pflegen, ohne besondere Beziehungen zur DNR und LNR hervorzuheben.
Die Frage eines angeblichen Genozids seitens Kiews in den südöstlichen Regionen wurde weder in der UNO noch in der OSZE angesprochen. Natürlich hätte Russland, um die Ukraine als freundlichen Nachbarn zu behalten, ein attraktives Modell eines Staates und eines Regierungssystems präsentieren müssen.
Doch dies ist nicht geschehen. Das russische Entwicklungsmodell und der außenpolitische Mechanismus der internationalen Zusammenarbeit stoßen fast alle Nachbarn und nicht nur diese ab.
Die Eingliederung der Krim und Sewastopols in Russland und deren Nichtanerkennung durch die internationale Gemeinschaft (was bedeutet, dass die überwältigende Mehrheit der Länder der Welt sie weiterhin als Teil der Ukraine betrachtet) zeigt die Unzulänglichkeit der russischen Außenpolitik und die Unattraktivität der Innenpolitik.
Versuche, durch Ultimaten und Drohungen mit Gewaltanwendung Liebe zur Russischen Föderation und ihrer Führung zu erzwingen, sind sinnlos und äußerst gefährlich. ( … und geradezu krankhaft psychopathisch)
Der Einsatz militärischer Gewalt gegen die Ukraine würde erstens die Existenz Russlands als Staat infrage stellen; zweitens würden Russen und Ukrainer für immer zu Todfeinden werden. Drittens würde es auf beiden Seiten Tausende (Zehntausende) getötete junge, gesunde Männer geben, was sich zweifellos auf die zukünftige demografische Situation in unseren aussterbenden Ländern auswirken würde. Auf dem Schlachtfeld, falls es dazu kommt, werden russische Truppen nicht nur auf ukrainische Soldaten treffen, unter denen viele Russen sein werden, sondern auch auf Soldaten und Technik vieler NATO-Staaten. Die Mitgliedsstaaten des Bündnisses wären verpflichtet, Russland den Krieg zu erklären.
Der türkische Präsident R. Erdoğan hat klar erklärt, auf welcher Seite die Türkei kämpfen wird. Es ist anzunehmen, dass die türkischen Streitkräfte den Befehl erhalten könnten, die Krim und Sewastopol „zu befreien“ und möglicherweise in den Kaukasus einzumarschieren.
Darüber hinaus würde Russland eindeutig in die Kategorie von Staaten aufgenommen, die den Frieden und die internationale Sicherheit bedrohen, mit schwersten Sanktionen belegt, zu einem Paria in der Weltgemeinschaft gemacht und möglicherweise seines Status als unabhängiger Staat beraubt werden.
Es ist unmöglich, dass der Präsident, die Regierung und das Verteidigungsministerium diese Konsequenzen nicht verstehen – so dumm sind sie nicht.
Es stellt sich die Frage: Was sind die wahren Ziele der Spannungsprovokation am Rande eines Krieges und des möglichen Auslösens groß angelegter Feindseligkeiten?
Nach unserer Ansicht erkennt die Landesführung, dass sie nicht in der Lage ist, das Land aus der systemischen Krise zu führen, was zu einem Volksaufstand und einem Machtwechsel führen könnte. Unterstützt durch die Oligarchie, korrupte Beamte, staatlich gelenkte Medien und Sicherheitskräfte hat sie beschlossen, die politische Linie auf die endgültige Zerstörung der russischen Staatlichkeit und die Vernichtung der indigenen Bevölkerung zu aktivieren.
Der Krieg dient als Mittel, um diese Aufgabe zu lösen, um die anti-nationale Macht für einige Zeit zu erhalten und die den Menschen gestohlenen Reichtümer zu bewahren. Eine andere Erklärung können wir uns nicht vorstellen.
Von dem Präsidenten der Russischen Föderation fordern wir Offiziere Russlands, die kriminelle Politik der Kriegsprovokation aufzugeben, in der die Russische Föderation allein gegen die vereinten Kräfte des Westens stehen wird, Bedingungen zu schaffen, um Artikel 3 der Verfassung der Russischen Föderation praktisch umzusetzen, und zurückzutreten.
Wir appellieren an alle Reserveoffiziere, Ruheständler und Bürger Russlands, Wachsamkeit und Organisation zu zeigen, die Forderungen des Rates der Allrussischen Offiziersversammlung zu unterstützen, aktiv gegen die Propaganda und die Entfesselung eines Krieges aufzutreten und einen internen Bürgerkonflikt mit Waffengewalt zu verhindern.