„Aber der Donbass“

A destroyed house is pictured in Slatyne village, amid Russia's attack on Ukraine, in Kharkiv region, Ukraine, May 18, 2022. Picture taken May 18, 2022. REUTERS/Ricardo Moraes

Diskutiert man über die Ursachen der russischen Invasion in die Ukraine, kommen in einschlägigen Internetkreisen immer wieder die gleichen Gründe und Rechtfertigungen. Gründe, warum der Krieg angeblich gerechtfertigt oder Russland gar dazu gezwungen war. Und Schuld an allem ist selbstverständlich nicht Russland, sondern die USA. Denn die Ukraine wäre ja gar kein richtiger Staat und wenn überhaupt, sowieso 100% unterwandert und korrupt. Hätte sozusagen also gar nicht mitzureden.

Aber der Reihe nach. Was ist dran an den permanent wiederholten Kriegsrechtfertigungen?

  1. Angriffsvorbereitungen der Ukraine
  2. Biolabore
  3. Alles Nazis
  4. Unterdrückte Russen
  5. Tote im Donbass
  6. NATO-Expansion stoppen

Angriffsvorbereitungen der Ukraine

Eine der gerade zu Beginn des Krieges immer wieder genannten Behauptungen war, dass Russland mit der Invasion einem möglichen Angriff der Ukrainer zuvorkommen wollte. Üblicherweise wäre das dann als „Präventivkrieg“ zu bezeichnen. Das Völkerrecht ist hier sehr eindeutig, dies zu verbieten. Denn solche angeblichen Vorbereitungen sind schnell konstruiert. Und auch jegliche reinen Verteidigungsmaßnahmen könnten missverstanden und als Kriegsgrund hergenommen werden.

Ganz egal was die Ukraine also an Truppenbewegungen innerhalb ihres Territoriums durchgeführt haben möge, es legitimiert keinen russischen Invasionskrieg. Hitlers „Operation Barbarossa“ wurde damals übrigens ganz ähnlich, mit sowjetischen Kriegsvorbereitungen begründet. Und für diese Operation klatscht in Russland heute auch keiner Beifall.

Biolabore

Recht still wurde es bald auch um die anfangs als Kriegsgrund genannten Biolabore inklusive all der dazugehörigen Narrative wie „infizierte Zugvögel“. Rein medizinisch ist es nicht möglich, einen Krankheitserreger so spezifisch zu züchten, dass er zwar Russen, aber keine Ukrainer infizieren würde. Krankheitserreger sind nun mal nicht sonderlich gut darin, Pässe zu lesen. Biolabor-Karten und Geschichten, die dazu teils auch von deutschen Alternativmedien verbreitet wurden, rangieren irgendwo zwischen „frei erfunden“ und „wild aus dem Kontext gerissen“. Und obwohl Russland Teile der Ukraine erobert hatte, Beweise gefunden hat man nicht. Noch nicht einmal Indizien für ein Biowaffenprogramm. Die Vorwürfe waren genauso frei erfunden wie damals angebliche Chemiewaffen im Irak.

Alles Nazis

Achtung Überraschung: Es gibt in der Ukraine, gerade im Westen durchaus eine ganze Reihe Nationalisten. Das ist allerdings keine speziell ukrainische Erfindung. Diese findet man gerade auch in Russland. Der Unterschied, sowohl qualitativ als auch quantitativ ist recht gering, lediglich das bevorzugte Feindbild ist sozusagen spiegelverkehrt. Für die einen sind es die russisch-sowjetischen Besatzer, für die anderen die „Banderisten“. Irreführender Weise wird jedoch oft, ob bewusst oder nicht, alles was „irgendwie rechts“ oder konservativ-patriotisch ist, in einen Topf geworfen und als „Nazi“ bezeichnet.

Guckt man sich die Wagner-Legionäre genauer an, findet man auch dort bevorzugt Nationalisten und darunter auch immer wieder „echte Nazis“. Bilddokumente dazu gibt es reichlich. Naturgemäß kämpfen nun mal eher Leute für ihr Land, denen ihr Land nicht egal ist bzw. für das sie sogar bereit wären ihr Leben zu geben. Der Unterschied zu Asow-Kämpfern? Kaum erkennbar.

Putin möchte also, mit einer „Nazi-Armee“ „Nazis“ in einem Nachbarland bekämpfen? Sollte er nicht vielleicht erst mal im eigenen Land damit anfangen? Und wieso geht es überhaupt ein Nachbarland etwas an, was in der Ukraine unbedeutende rechte politische Randgruppen treiben? Bei den letzten Parlamentswahlen hatten diese gerade einmal 2,15% und scheiterten damit klar an der dortigen 5%-Hürde.

Egal was und wie viele „Nazis“ angeblich irgendwo sind, es begründet keinen Angriffskrieg. Der Begriff „Nazi“ ist sowieso sehr dehnbar und willkürlich. Gerade innerhalb der russischen Propaganda wird er seit 80 Jahren für alles Mögliche als Feindbild verwendet und die Bevölkerung darauf eingeschworen. Um einen Angriffskrieg zu begründen kommt der konstruierte Vorwurf eines „Naziregimes“ – ironischer Weise geleitet von einem jüdischen Präsidenten – daher gerade recht.

Unterdrückte Russen

Eine weitere Legende ist, dass in der Ukraine die russische Sprache unterdrückt werden würde. Selbst wenn es so wäre, wäre auch das zunächst wiederum ein rein innerukrainisches Thema, das außerhalb der Ukraine niemanden etwas angeht. Italien hätte schließlich auch keinerlei Recht, einen Angriffskrieg gegen die Schweiz zu führen, wenn dort Italienisch plötzlich „diskriminiert“ werden sollte.

Der Vorwurf bezieht sich dabei auf eine Gesetzesänderung, in der an manchen Stellen im Geschäftsleben Ukrainisch festgeschrieben wurde, was immerhin die einzige in der Verfassung verankerte Amtssprache des Landes ist. Im Süden und Osten des Landes wurde schon immer weit überwiegend Russisch gesprochen. Dies hat sich auch durch dieses Gesetz nicht geändert und ist so akzeptiert. Selbst der ukrainische Präsident ist russischer Muttersprachler. Wurde er wegen seiner Muttersprache diskriminiert oder gar unterdrückt? Wie hätte er dann sogar Präsident werden können?

Tote im Donbass

Ein Lieblingsspruch diverser Befürworter der russischen Invasion: Man müsse sich nur mit der Geschichte der Ukraine seit 2014 beschäftigen, dann würde man verstehen, wieso Russland Krieg gegen die Ukraine führt. Russland müsse dort weitere Tote verhindern, es wäre also ein geradezu „humanitärer“ Einsatz.

Dazu ist zunächst festzustellen, dass der Donbass bis zur Invasion Russlands mittels der bekannten „grünen Männchen“ ein friedlicher Ort war, auch wenn man dort mit dem Maidan alles andere als glücklich war. Diese Spannungen hätten aber auch mit der kurz darauf erfolgten Neuwahl erledigt sein können.

Tote gab es erst, seit dem Putin dort einmarschiert ist. Die Invasion 2014 war genauso verbrecherisch wie der erneute Überfall auf die Ukraine 2022, nur nicht ganz so blutig. Selbstverständlich ist auch der Maidan keine Rechtfertigung für einen Angriffskrieg. Denn der Maidan ist selbst dann eine innerukrainische Angelegenheit, wenn dort ausländische Geheimdienste eine unschöne Rolle gespielt haben sollten. Es ist übrigens nicht so, dass sich Russland vorher nicht auch selbst in die ukrainische Politik eingemischt hätte. Im Gegenteil, der gestürzte Präsident Janukowytsch war gerade wegen seiner Kreml-Nähe und -Unterstützung, durch die er überhaupt erst seine Wahl gewonnen hatte, bei vielen Ukrainern sehr unbeliebt. Man muss weder die eine noch die andere ausländische, politische Einmischung begrüßen, jedenfalls ist keine davon ein Kriegsgrund.

Eine erneute Invasion sorgt auch nicht dafür, dass irgendeiner der „Toten im Donbass“ je wieder lebendig wird. Genauso werden durch die Invasion keine hypothetischen zukünftigen Toten verhindert. Denn die Kämpfe dort waren bereits auf nahe Null abgeklungen, ein „eingefrorener Konflikt“. Die Invasion erzeugt also nur sehr, sehr viel neues Leid.

Anzahl ziviler Todesopfer im Donbass
Quelle: Statista

Hätte man tatsächlich „Leid verhindern“ wollen, wäre maximal eine Truppenstationierung beispielsweise im Rahmen einer UNO-Blauhelm-Mission in den bereits besetzten Gebieten diskutabel gewesen. Der Versuch, die gesamte Ukraine zu erobern, widerlegt alleine schon jeglichen Anschein einer „humanitären Intervention“.

NATO-Expansion stoppen

Man muss die NATO nicht mögen und kann sicherlich manches an ihr kritisieren. Sie ist jedenfalls keine aufgezwungene Gemeinschaft wie der Warschauer Pakt, in welchen die osteuropäischen Länder unter sowjetischer Militärbesatzung zusammengeschlossen wurden. Und welche Bündnisse souveräne Staaten eingehen, ist primär erst einmal nur die Angelegenheiten genau dieser Staaten.

Dass sich so viele ehemalige Ostblock-Staaten heute in der NATO wiederfinden, hat einen einfachen Grund: Diese Staaten haben sich aktiv um eine NATO-Mitgliedschaft bemüht, weil sie sich durch eine regelmäßig mit Waffengewalt umgesetzte Außenpolitik Russlands stark bedroht sahen. Wie berechtigt diese Sorge um ihre Souveränität ist, kann man heute an gespaltenen Ländern wie Moldawien, Georgien oder der Ukraine sehen. Russland hat seine Nachbarn in regelmäßigen Abständen überfallen, Territorien abgespalten und innenpolitische Konflikte geschürt. Da die meisten Länder im Ostblock zu klein sind für ein teures, eigenes Atomwaffenprogramm und damit keine ausreichende nukleare Abschreckung besitzen, ist die NATO-Mitgliedschaft für sie eine existenzielle Lebensversicherung.

Hätte die Sowjetunion bei ihrem Zerfall auf eine Nicht-Aufnahme der Ostblock-Länder in die NATO bestehen können? Sicher, auch in Österreich wurde beispielsweise nach dem Krieg eine „Immerwährende Neutralität“ in der Verfassung verankert. Dies ist jedoch bei den Ostblock-Ländern nicht geschehen. Über die Zusicherung einer Neutralität sind lediglich einige mündliche Aussagen im Rahmen der Verhandlungen des Zwei-plus-Vier-Vertrages überliefert, welche jedoch nicht Teil des Vertrages wurden.

Eine Nicht-Erweiterung wurde also nie vertraglich festgehalten und zugesichert. Und daher braucht sich Russland auch heute nicht darüber beschweren. Im Gegenteil, Putin selbst ist mit seiner aggressiven Außenpolitik der beste Werbeträger der NATO. Dank ihm sind mittlerweile auch Finnland und Schweden auf dem Weg, dem Bündnis beizutreten. Sogar bisher eher unbeteiligte Länder wie Irland werden bedroht und könnten sich infolge dessen künftig der NATO anschließen. Geliefert wie bestellt, könnte man da sagen. Der einfachste Weg, die NATO-Expansion zu stoppen besteht für Russland ganz einfach darin, seine Nachbarländer nicht regelmäßig militärisch zu bedrohen. Weder durch kriegerische Handlungen, noch durch offizielle Aussagen, noch durch Propagandasprechpuppen und Kriegshetzer in den russischen Medien.

Diffamierungen, Unterstellung einer feindlichen Haltung und offene nukleare Drohung gegen Schweden und Finnland.
Größenwahnsinnige Kriegsdrohungen wie diese gegen ganz Europa sind derzeit fast täglich im russischen Fernsehen zu sehen.

Fazit

Langfristigen Beobachtern dieses Konfliktes, einschließlich den meisten Ukrainern, bereiten diese unhaltbaren russischen Kriegsrechtfertigungen und -lügen wahlweise Bauchschmerzen, Kopfschmerzen oder Brechreiz. Es ist traurig zu sehen, wie teilweise sogar Familienbande darunter Leiden, wenn nahe Menschen fest von diesen Kriegslügen überzeugt sind und damit den Raketenbeschuss von Städten rechtfertigen, in denen ihre eigenen Verwandten wohnen.

Um sich bei all den argumentativen Nebelkerzen angeblicher Kriegsgründe nicht verwirren zu lassen, hilft es, immer wieder die einfache Frage zu stellen:

Wessen Panzer und Soldaten fahren gerade auf wessen Territorium herum? Und was haben sie da verloren?

Ich wünsche den Ukrainern viel Mut und Erfolg bei der Verteidigung ihrer Heimat. Und allen Russen die Entschlossenheit, endlich auf die Straße zu gehen und das Regime Putin zu entfernen, unter dem nicht nur die russischen Nachbarn, sondern ganz besonders auch die Russen selbst seit Jahren leiden.

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