Ein Damm bricht

In der Nacht zum 6. Juni 2023 bricht der Kachowka-Staudamm im Süden der Ukraine. Der Damm war unmittelbar zu Beginn der russischen Invasion in die Ukraine in russische Hände gefallen und befand sich seit dem unter russischer Kontrolle. Noch während sich in den frühen Morgenstunden die Nachrichten überschlagen, streitet Russland reflexartig jegliche Schuld an diesem Desaster ab.

Nicht man selbst, sondern ukrainischer Raketenbeschuss sei für die Zerstörung des Dammes verantwortlich. Und außerdem wäre man schließlich selbst am schlimmsten von dem Dammbruch betroffen, da nun die Wasserversorgung zur Krim unterbrochen und auch eigene Stellungen am linken Dnjepr-Ufer von den Überflutungen betroffen seinen. Selbst deutsche Medien berichten sehr zurückhaltend über dieses Ereignis und sprechen von „gegenseitigen Schuldzuweisungen“ und „unklarer Faktenlage“.

Ist diese Faktenlage wirklich so unklar? Ein Überblick.

Vorgeschichte

Russland hatte wie bereits erwähnt den Damm in den ersten Tagen des Krieges besetzt. In den ersten Kriegsmonaten diente er neben der Antoniwka-Brücke als eine der zwei Hauptverbindungsrouten des russisch besetzten Südens in das besetzte Cherson. Während Cherson besetzt war, wurden diese beiden Bauwerke regelmäßig das Ziel von ukrainischen HIMARS-Raketen. Diese sind zwar Dank GPS-Steuerung präzise genug, um eine Brücke zu treffen, besitzen jedoch einen zur Zerstörung von Betonbauten eher ungeeigneten Splitter-Sprengkopf und generell zu wenig Sprengkraft, um massive Betonziele wirklich zu beeindrucken.

Es brauchte ganze Salven von Treffern, um auch nur die dünne Betondecke einer Autobrücke nachhaltig zu schädigen. Am Damm wurde dabei insbesondere eine kleine Brücke über die Schleuse und eine Ecke der Fahrbahn regelmäßig beschossen und auch ebenso regelmäßig wiederhergestellt.

Nach dem erzwungenen Rückzug der Russen aus Cherson sprengten diese sowohl die Antoniwka-Brücke, als auch einige Brückensegmente auf dem Staudamm. Strukturelle Beschädigungen waren bis dahin nirgends festzustellen. Und es wurde auch kein Beschuss dokumentiert, der dazu angelegt oder geeignet gewesen wäre.

Situation am 4.6.2023: Lediglich am Nordende ist die von Russland gesprengte Straßendecke als nennenswerte Beschädigung zu erkennen. Nur eines der Fluttore ist geöffnet, trotz alarmierend hohem Pegel.

Motivationslage

Warum hätte der Damm auch angegriffen werden sollen? Für beide Seiten war der Damm sehr wichtig. Die Russen brauchten ihn einerseits als Nachschubroute nach Cherson, andererseits um den Krim-Kanal und damit die besetzte Krim mit Wasser zu versorgen. Für die Ukraine ist der Damm und der dahinter liegende Stausee eine Lebensader. Er schützt nicht nur die stromabwärts gelegenen Gebiete im Flussdelta vor regelmäßigen Überflutungen, er versorgt auch rund eine Million Menschen mit Trinkwasser und sorgt für Bewässerung riesiger landwirtschaftlicher Flächen. Ohne den See wäre der Süden der Ukraine, und zwar auch auf der Nordseite des Dnjeprs, deutlich trockener und weniger fruchtbar. Zudem trug der Damm mit rund 350 MW zur örtlichen Stromversorgung bei.

Dass der Damm in russische Hände fiel und damit zu Kriegszwecken verwendet werden konnte, war eine der zwei ganz großen ukrainischen Sorgen schon zu Beginn des Krieges. Die andere war die Besetzung des Kernkraftwerkes in Energodar. Die Zerstörung des Dammes ist für die Ukraine eine Katastrophe, die möglicherweise selbst Tschhernobyl noch in den Schatten stellt und deren volle Tragweite in den kommenden Tagen und Wochen erst überschaubar werden wird.

Mit dem Rückzug über den Dnjepr war für die Russen der militärische Nutzen des Dammes entfallen. Er stellte nun vielmehr eine gefährliche Hintertüre dar, die konstante Bewachung und Aufmerksamkeit erforderte, um ein Übersetzen der Ukrainer und die Eroberung eines Brückenkopfes auf dem Südufer des Dnjeprs zu verhindern. Je mehr die Gegenoffensive der Ukraine Gestalt annahm, umso gefährlicher wurde diese. Und je nachdem wie viel Erfolgschancen man der ukrainischen Gegenoffensive einräumen möchte und damit die Krim als verlorene Kriegsbeute abschriebe, war auch der zivile Nutzen zwar nicht für die Krimbewohner, aber für Russland entfallen.

Vorbereitung

In den letzten Monaten vor dem Dammbruch waren seltsame Pegelschwankungen am Stausee zu beobachten. Zunächst war der Stausee bis auf ein langjähriges Minimum entleert worden. Anschließend wurde der Abfluss nahezu abgeriegelt und der Pegel stieg auf ein seit Jahrzehnten unerreichtes Maximum. Der See war bis zum Überlaufen gefüllt worden. Wettergründe waren dafür nicht ersichtlich.

Quelle: Hydroweb

Eine kleine aber auffällige Randnotiz ereignete sich zudem am 30.5. in Moskau. Ohne nennenswerte Aufmerksamkeit verabschiedete die Duma ein Gesetz zur „Gewährleistung der Sicherheit von Wasserbauwerken“ mit spezieller Gültigkeit innerhalb der okkupierten Gebiete. Darin heißt es ganz am Ende unter §10:

Bis zum 1. Januar 2028 werden technische Untersuchungen von Unfällen in gefährlichen Produktionsanlagen und Unfällen in Wasserbauwerken, die auf militärische Operationen, Sabotage und terroristische Handlungen zurückzuführen sind, nicht durchgeführt.

pravo.gov.ru

Spezielle Regelungen für Industrieanlagen und Wasserkraft, man könnte meinen die Duma hätte in Kriegszeiten und angesichts der enormen innenpolitischen Probleme nichts besseres zu tun. Aber wieso möchte man gerade solche „terroristischen Handlungen“ nicht untersuchen, die doch ansonsten immer gerne von der eigenen Propaganda weidlich ausgeschlachtet wurden, um die Ukraine zu diskreditieren? Möchte man keine Saboteure mehr ermitteln und verurteilen?

Der frühe Morgen

Das bis Dato erste Video vom beschädigten Damm entstand vermutlich durch die Nachtsichtoptik eines russischen Scharfschützen, laut Zeitstempel um 2:45 Uhr. Die Dammkrone und die Straße darauf sind etwa zur Hälfte abgerissen. Das Wasser läuft mit reißender Strömung talwärts. Mitten im Video ist eine Explosion zu sehen. Vermutlich eine fortgerissene Panzermine von den Uferbefestigungen, die im Laufe des Tages noch weitere Explosionen verursachten. Das Maschinenhaus rechts im Bild erscheint noch vergleichsweise intakt.

Erstes nächtliches Video vom Dammbruch

Der Sonnenaufgang und erste Drohnenaufnahmen enthüllen das immer größer werdende Ausmaß des Schadens. Mittlerweile ist auch das halbe Maschinenhaus Opfer der Fluten geworden.

Der ab dem frühen Morgen erfolgende russische Kommunikationsfluss ist sehr erhellend. Konstantin Ryzhenko hat diesen gut zusammengefasst.

  • Der örtliche russische Militärverwalter Leontjew erklärt gegenüber RIA Nowosti gegen 6:00 Uhr, alles sei ruhig und in Ordnung. Gerüchte über Explosionen seien Unsinn. Sie wüssten nicht, wieso der Wasserspiegel im See steigt.
  • Gegen 6:56 Ortszeit ändert Leontjew seine Rhetorik und spricht nun von nächtlichen ukrainischen Angriffen auf den Damm. Davor war obiges Video in Umlauf geraten, welches das massive Ausmaß der Zerstörung zeigte.
  • Russische Propagandakanäle feiern am frühen Morgen zunächst die Zerstörung des Dammes, weil damit nun die Ukrainer ihre Positionen auf den Flussinseln verlassen müssten, die teilweise nur Zentimeter über den Wasserspiegel hinausragen.
  • Anschließend überschlagen sich die russischen Propagandamedien mit verschiedenen Erklärungen, auf welche Weise angeblich die Ukrainer den Damm gesprengt hätten und warum diese Sprengung russischen Interessen völlig widerspräche. Der Informationsraum wird mit reihenweise Nebelkerzen und vorgeblichen Gründen der Ukraine für eine Sprengung geflutet.
  • Die Feierlaune russischer Propagandisten ist verschwunden. In internen russischen Kanälen erkennt man den Imageschaden, den man angerichtet hat: „Die Katastrophe im Wasserkraftwerk Kachowka wird eine neue antirussische Welle in Europa auslösen. Die Umweltkatastrophe in der Ukraine wird die negative Stimmung der Öffentlichkeit gegenüber Russland verschärfen.“
Der völlig überforderte russische Statthalter Wladimir Leontjew von Nowa Kachowka: „Bin gerade erst durch die Stadt gelaufen. Tankstellen und Geschäfte arbeiten normal.“

Auswirkungen

Da die Gegend recht flach ist, sind mittlerweile rund 600 km² Landfläche überschwemmt. Die mittlere Höhe der Überflutung beträgt 5,6 m, in unmittelbarer Nähe des Hauptflusses gar über 10 m. Die Flutwelle ist damit deutlich höher und auch die betroffene Fläche deutlich größer als ursprünglich erwartet. Zum Vergleich, beim Ahrtal-Unglück waren etwa 2 km² Fläche betroffen!

Es wird noch Tage dauern, bis das Wasser abgeflossen ist. Häuser, Infrastruktur, Hafenanlagen, alles was sich nahe des Flusses befand ist entweder völlig zerstört oder wird aufwändig saniert werden müssen. Da auch Kanalisation, Kläranlagen, Treibstofftanks und ähnliches überflutet wurden, ist die Flut an vielen Stellen eine sehr eklige Brühe. Trinkwasser ist ein kostbares Gut und die Versorgung damit wird aufwändig wiederhergestellt werden müssen.

Durch die Flut mussten alle Vorposten und Brückenköpfe der ukrainischen Gegenoffensive im Flussdelta evakuiert und aufgegeben werden. An weitere Vorstöße dürfte für die nächsten Wochen oder gar Monate nicht zu denken sein. Denn selbst wenn die Flut abgelaufen ist, wird die sowieso recht sumpfige Gegend derart nachhaltig aufgeweicht sein, dass keine größeren militärischen Bewegungen möglich sind. Die völlig zerstörte Infrastruktur, weder Wasser noch Stromversorgung, würde eine Logistik zusätzlich erschweren. Und auch der Damm steht als Überquerungsmöglichkeit für den Fluss und damit als potenzielle Nachschubroute für die Ukraine nicht mehr zur Verfügung.

Daher freut sich auch der russische Statthalter des Bezirkes, Wladimir Saldo, dass „sich die strategische Position Russlands verbessert“ und „Russland einen militärischen und taktischen Vorteil verschafft“ habe. Tausende russischer Soldaten, die bisher am Südufer des Dnjepr stationiert waren, können nun an andere Frontabschnitte verlegt werden.

Die strategischen Auswirkungen des Dammbruchs sind zusammenfassend mit dem Einsatz einer taktischen Nuklearwaffe vergleichbar, die ein Gebiet für beide Seiten für einige Zeit unbetretbar macht. Mit dem für die Täter sehr nützlichen Unterschied, dass man die Verantwortung für die Überflutung zumindest versuchsweise abstreiten kann, um so Sanktionen und internationalen Reputationsschaden zu vermeiden.

Fazit

Die Faktenlage für ein russisches Verschulden des Dammbruchs ist erdrückend. Die gesetzlichen Maßnahmen zur Vertuschung als auch die maximale Aufstauung des Stausees sprechen für eine monatelange Vorbereitung. Gleichzeitig hatte außer Russland niemand die Möglichkeit, entsprechende Manipulationen am Damm vorzunehmen bzw. Sprengladungen anzubringen. Der Zeitpunkt der Zerstörung lag kriegstaktisch nicht unpassend zum Stoppen der Gegenoffensive über die Inseln im Dnjepr. Angebliche ukrainische Angriffe erweisen sich als eine aus der Not geborene Propagandaerfindung Russlands.

Gleichzeitig deutet die zunächst völlige Verwirrung der russischen Kanäle darauf hin, dass man möglicherweise eine kontrolliertere Überflutung geplant hatte oder irgendetwas völlig aus dem Ruder lief, und man beispielsweise die Auswirkungen von Erosion am Damm unterschätzte und sich der Schaden anschließend ungewollt derart katastrophal ausweitete.

Plädoyer russischer Propagandisten für weitere Staudammzerstörungen

Ob es sich bei der Zerstörung des Dammes letztendlich um brutales Kalkül und Vorsatz oder Inkompetenz und gröbste, sträfliche Verantwortungslosigkeit handelte, ist für die Opfer unerheblich. Es ist in jedem Falle eines der größten Verbrechen der letzten Jahrzehnte. Und russische Propagandisten diskutieren derweil sogar schon über die Zerstörung weiterer Staudämme!

Wer sich hierbei noch hinstellt und sagt, über den Verursacher der Katastrophe könne man keine Aussage treffen, unterstützt die Vertuschungsbemühungen der Täter!

Nachtrag

Mittlerweile gibt es erste Analysen des Schadensbildes am Damm. Das Maschinenhaus ist meterweit nach unten gesackt und wird nun vom Wasser überspült. Obere Gebäudeteile sind eingefallen, aber nicht nach außen gesprengt worden. Brand- oder Rauchspuren sind auf bisher veröffentlichtem Videomaterial von der hinteren Hälfte des Maschinenhauses nicht zu erkennen.

Trotz obenauf weiterhin stehender Wände, müssen am darunter liegenden, massiven Betonfundament fatalste strukturelle Schäden aufgetreten sein. Dies kann ein Hinweis auf eine Sprengung aus den unteren Etagen des Turbinenhauses heraus sein. Möglich ist aber auch eine Unterspülung des Maschinenhauses durch die Flut des austretenden Wassers nach dem eigentlichen Dammbruch.

Querschnitt des Maschinenhauses. Die grobe Lage des Maschinenhauses gegen Sonnenaufgang in Orange
Quelle: Tom Cooper

Auch gab es bereits am 10. Dezember letzten Jahres Videos aus russischen Telegramkanälen, auf denen russische Soldaten damit prahlten, den Damm nun vollständig vermint zu haben und damit eine „Neujahrsüberraschung“ bereiten zu wollen. Der ukrainische Geheimdienst warnte bereits damals vor einer möglichen Sprengung durch die russische Seite.

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